Wie ein radelnder Stinkefinger zum Apologeten der Langsamkeit werden kann


11. 07. 2016

Stinkefinger

Je kürzer die Warteschlange an der Kasse, desto schneller ist man am Ziel. So könnte die Regel lauten. Aber ganz so einfach ist die Welt nicht. Die Wahrheit liegt vielmehr dazwischen, im weder noch.

Denn auch die kürzeste Schlange kann zur Geduldsprobe werden, wenn dem Vordermann plötzlich einfällt, dass er die Tomaten doch nicht haben möchte oder wenn das Einbongen auch beim fünften Versuch fehlt schlägt. Dann fängt zunächst die oft mühsame Suche nach dem Preis der Ware an, der dann schließlich per Hand eingegeben werden muss. Das alles kostet Zeit. Und spätestens wenn man sich am Anfang des Wartens den Hintermann der Nebenschlange gemerkt hat, der dann plötzlich VOR einem fertig ist, weiß man: Bei Warteschlangen gibt es keine Regel. Und wenn es eine gibt, so heißt sie: Ruhe bewahren. Und ganz tief durchatmen. Schließlich ist der nichts ahnende Konkurrent nur eine Minute im Vorteil. Na, vielleicht sind`s auch zwei, aber was macht das schon?

Ganz anders und doch wiederum genauso verhält es sich beim Fahrrad fahren. Vom Jakobsweg, bei dem einen die gebrechlichen Pilger - ja, auch diese gibt es dort - auf unerfindliche Weise immer wieder einholen, will ich gar nicht sprechen. Es geht in diesem Fall ums Radeln. Wer also auf dem Fahrrad den Vorderradler überholt, ist zunächst ganz klar im Vorteil, weil er 1. endlich freie Fahrt hat, 2. das Tempo selber bestimmen kann und weil er 3. nicht mehr den ausgestreckten Stinkefinger anstarren muss, den einem der Vordermann unaufgefordert auf seinem T-Shirt präsentiert. Eine Zumutung! Umso wichtiger wird in diesem Fall das Überholmanöver. Doch spätestens an der nächsten Fußgängerampel holt einen der Stinkefinger wieder ein. Und das Ärgerliche daran: Das Spiel wiederholt sich. Immer wieder, über einen Kilometer hinweg, bis plötzlich jener Stinkefinger eine tiefere Bedeutung zu bekommen scheint. "Scheiß aufs Überholen, Du bist eh nicht schneller," mahnt der erhobene Finger von seinem T-Shirt herunter und flüstert gleich noch hinterher: "In der Ruhe liegt die Kraft. Das ist doch schon seit jeher bekannt" - eine Erkenntnis, für die ein Stinkefinger eigentlich doch gar nicht nötig gewesen wäre...

Ihre

Sibylle Bretschneider